Konzept/Vision

Die Poliklinik Veddel ist ein Stadtteil-Gesundheitszentrum, in dem verschiedene Berufsgruppen zusammen mit den Menschen im Stadtteil für die Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebenswelten eintreten. Gesundheit verstehen wir hierbei deutlich umfassender, als dies im Allgemeinen der Fall ist. Nicht nur die medizinische Versorgung und individuelle Verhaltensweisen stehen im Mittelpunkt, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit – von der lokalen bis zur globalen Ebene. Politische und soziale Faktoren wie Mietsteigerungen, geringes Einkommen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Rassismus oder Altersarmut beeinflussen die Gesundheit nachweislich stärker als die Qualität der medizinischen Versorgung alleine. Wir setzen an beiden Bereichen an. Indem wir Menschen dabei unterstützen, kollektive Lösungsstrategien für gemeinsame Problemlagen zu entwickeln. Indem wir uns aktiv an aktuellen politischen Auseinandersetzungen beteiligen. Und indem wir unsere Versorgungspraxis an den Bedürfnissen der Besucher*innen orientieren und mit ihnen gemeinsam weiterentwickeln. Wir wollen eine konkrete Alternative zu den derzeitigen ambulanten Versorgungsstrukturen entwickeln, in der Profitinteressen keinen Platz haben, Qualität statt Quantität gilt und Gesundheit als Allgemeingut verstanden wird.

Der Erfolg der Poliklinikbewegung ist dabei eng an die Frage geknüpft, ob es gelingt, die Ökonomisierung des ambulanten Sektors aufzuhalten und ein ganz im Sinne des ursprünglichen Solidargedankens funktionierendes Finanzierungsmodell 2.0 für den ambulanten Sektor zu etablieren. Wir verstehen unsere Vision für eine andere Gesundheitsversorgung und -vorsorge als Modell, um der wachsenden sozialen und gesundheitlichen Ungleichheit in den Städten Europas zu begegnen und sehen dabei eine moderne Medizin und Sozialarbeit in der besonderen Verantwortung, auf gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, die krank machen, aufmerksam zu machen.

Zu unserem Konzept gehören neben der primärmedizinischen Versorgung drei wesentliche Kernelemente:

1. Multiprofessionelle Zusammenarbeit:

Patient*innen, Angehörige und Akteur*innen erleben die Gesundheitsversorgung in Deutschland immer noch als bruchstückhaft und getrennt in Sektoren. Kommunikationsstrukturen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen sind kaum vorhanden. Nur in wenigen Leuchtturmprojekten sind Integration und Kooperation schon heute Realität. Ein interdisziplinäres Team, in dem Mediziner*innen nicht mehr den alleinigen Mittelpunkt bilden, sondern gleichberechtigt auf Augenhöhe mit allen weiteren Berufsgruppen zusammen arbeiten, bildet den Kern der Poliklinik. In diesem Zusammenspiel der verschiedenen Expert*innen sehen wir einen wesentlichen Fortschritt gegenüber der herkömmlichen ambulanten Versorgung mit der Einzelpraxis und dem damit einhergehenden vereinsamten, individualisierten Arbeiten. Die Patient*innen können je nach Bedarf psychologische, juristische, medizinische (ärztliche und Pflegeberatung) oder soziale Beratung in Anspruch nehmen und werden so problemorientiert und ganzheitlich betreut.

Eine berufsübergreifende, integrative Zusammenarbeit in Form von interdisziplinären Fallbesprechungen, gemeinsamer und gegenseitiger Fortbildung, sowie der informelle Austausch fördern die Bündelung medizinischer Kompetenz und die enge Interaktion führt zu einer effizienteren und qualitativ besseren Versorgung. Die gemeinsame Diskussion gesundheitlicher Probleme und die gegenseitige Qualitätskontrolle fördern Gemeinschaft und das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Gesundheitsarbeiter*innen.

2. Evaluation und Forschung:

Eine stetige Evaluation und Weiterentwicklung unserer Arbeit ist zentrale Prämisse der Poliklinik. Das enorme Ausmaß exklusiver Deutungshoheit, das der Biomedizin bei der Bearbeitung des Themenkomplexes Krankheit und Gesundheit eingeräumt wird, entspricht dem industriegesellschaftlichen Rationalismus mit aller seiner funktionalistischen Beschränktheit. Mit unserer Forschung wollen wir hier einen Gegenpol setzen, indem wir quantitative und qualitative Forschungsmethoden miteinander verbinden und transdisziplinäre Forschungsansätze entwickeln. Die Daten, die durch die primärgesundheitlichen Versorgung im Gesundheitszentrum erhoben werden, können mit Einverständnis der Patient*innen als Grundlage für größere epidemiologische Studien in der Tradition der angelsächsischen Forschung zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit genutzt werden. Zugleich ist es eine der zentralen Aufgaben, wissenschaftliche Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Lebenssituation und Gesundheitszustand zu generieren, um Leitlinien einer zeitgemäßen Gesundheitsversorgung zu verbessern.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Anwendung und Weiterentwicklung partizipativer Methoden: Die Menschen, die auf der Veddel und in Wilhelmsburg leben, kennen die Stärken und Schwächen ihrer Stadtteile; sie sind die Expert*innen, wenn es um die körperlichen und psychischen Belastungen infolge ihrer Lebensumstände geht und auch in Bezug auf die Frage, wodurch Verbesserungen erreicht werden könnten. Wir müssen von ihnen lernen.

3. Prävention:

Dass soziale Ungleichheit krank macht, dass der sozioökonomische Status eines Menschen die Lebensdauer bestimmt, sind keine Neuigkeiten. Und trotzdem steht im Einklang mit dem neoliberalen Credo unserer Zeit das individuelle Verhalten im Zentrum von Gesundheitsversorgung und Prävention. Das wollen wir ändern. Mit einem Konzept, das sich den Herausforderungen unserer Zeit stellt, in dem das Postmigrantische als Stärke und nicht als Problem gesehen wird, in dem die krankmachenden Verhältnisse und nicht nur das individuelle Verhalten ins Blickfeld geraten, in dem gemeinsam über Berufsgrenzen und Rollenbilder hinweg nach kollektiven Lösungsstrategien gesucht wird, in dem eine Kultur der Teilhabe und des Willkommens eine Antwort auf Krankheit ist. Bereits jetzt entwickeln wir regelmäßig mit den Bewohner*innen der Veddel Präventionsprojekte, die auch die sozialen Lebensverhältnisse der Menschen mit in den Fokus nehmen.


Soziale Lebensverhältnisse

Die gesundheitlichen Ungleichheiten finden ihre Ursache in der Gesellschaft, den sozialen Determinanten von Gesundheit. Das individuelle „Gesundheitsverhalten“ passiert immer vor dem Hintergrund der jeweiligen sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen.

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VDÄÄ

Die Poliklinik Veddel ist Teil der Arbeitsgruppe „Ambulante Gesundheitsversorgung“ des Vereins Demokratischer Ärztinnnen und Ärzte. Hier arbeiten wir an einer Analyse und Kritik des aktuellen Versorgungssystems.

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